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chronik:1909

1909

Der geschmückte Korb eines Gasballons umgeben von Menschen. Links vor dem Korb mit Zylinder der Vorsitzende des Vereins, Bürgermeister Dippe. Foto: © Archiv Kreismuseum Bitterfeld

Taufe des ersten Ballons des Bitterfelder Vereins. Im Vordergrund der Vorsitzende des Vereins, Bürgermeister Dippe. Foto: © Archiv Kreismuseum Bitterfeld

Ballonfahrt nicht mehr neu

1909 konnte man die Ballonfahrt nun nicht mehr als eine neue Sache bezeichnen. Über 70 Ballonstarts hatten die Bitterfelder bis zum Dezember 1908 beobachtet. Und es waren mit dem Fabrikbesitzer Piltz und dem Kaufmann Luft auch schon zwei Bitterfelder als Gäste in einem Ballon mitgefahren. Sie werden sich dort sicherlich mit dem Ballonvirus infiziert haben und den in der Stadt umhergehenden Gedanken der Gründung eines Vereins für Luftfahrt vorangetrieben haben. Denn bereits im August 1908 erschien ein Aufruf zur Gründung eines Vereins für Luftschiffahrt für Bitterfeld und Umgegend. Am 18. Februar 1909 fand im Hotel Europa, so das Bitterfelder Tageblatt

…eine Zusammenkunft von Herren statt, welche gut besucht war. Zunächst erstatteten die Herren Fabrikbesitzer B. Martin und Rechtsanwalt Dr. Kleinau Geschäftsberichte aus anderen größeren und kleineren Vereinen, welchen man mit Interesse folgte. Schließlich wurde zur Gründung des Vereins geschritten, wozu ca. 67 Herren ihre Unterschriften gaben. Den Vorsitz hat Herr Bürgermeister Dippe in liebenswürdiger Weise übernommen. Der jährliche Beitrag ist auf 20 Mark festgesetzt und sind Neuanmeldungen sehr erwünscht. Da die Gründung zufällig am ersten Tage des Aufstieges des „Parseval“ erfolgte, wollen wir es für den Verein als ein gutes Omen betrachten und ihm für alle Zeiten beste Erfolge wünschen.

Es wurde der Beschluss gefasst, Major August v. Parseval (L.F.G.), Dr. Walther Rathenau (Elektrochemische Werke) und Dr. Ignatz Stroof (CFGE) als Ehrenmitglieder aufzunehmen.

Nur wenige Tage später, der Verein war schon auf ca. 90 Mitglieder angewachsen, beschloss man einen Ballon anzuschaffen und ihn auf den Namen Bitterfeld zu taufen. Keiner sollte ahnen, dass es einmal 13 Ballone geben würde, die diesen Namen trugen.

Wie es in den Anfangstagen mit dem neugegründeten Verein weiterging, darüber unterrichtet uns wieder das Bitterfelder Tageblatt:

Der Verein für Luftschiffahrt von Bitterfeld und Umgebung e. V. hielt am gestrigen Tage (21.03.1909) seine erste Generalversammlung im Hotel Europa ab, die sich eines guten Besuches erfreuen konnte. Nachdem die vom prov. Vorstand aufgesetzten Statuten verlesen und von der Versammlung genehmigt worden waren, wurde zur Wahl des endgültigen Vorstandes geschritten. Sämtliche Herren, welche bisher dem prov. Vorstand angehörten, wurden wiedergewählt und nahmen diese die Wahl auch in liebenswürdiger Weise an. Der Verein, der sich an die bestehenden Vereine umfassenden „Deutschen Luftschiffer-Verband“ anschließen wird, verfolgt nachstehende Ziele: 1. Beschaffung und Erhaltung guten Ballonmaterials. 2. Veranstaltung von Ballonfahrten von Bitterfeld aus. 3. Ausbildung und Übung von Ballonführern, die auch im Kriegsfalle dem Vaterlande gute Dien ste leisten können. 4. Abhaltung von Vorträgen über Luftschiffahrt. Der Mitgliedsbeitrag soll 20 Mk. für das Jahr betragen. Man erwirbt damit ein besonderes Recht auf 1. Teilnahme an Normalfahrten, zu deren Kosten der Verein beisteuert. 2. Teilnahme an Sonderfahrten gegen Erstattung der Gesamtkosten. 3. Teilnahme an der Auslosung von Freifahrten. Herren und Damen, die bereit sind dem Verein beizutreten, werden gebeten, eine mündliche oder schriftliche Erklärung dem l. Vorsitzenden, Herrn Bürgermeister Dippe, oder irgendeinem Mitglied des Vereins abzugeben. Die Mitgliederzahl ist bereits auf ca. 120 gestiegen. Wie wir hören, soll schon Ende dieser oder Anfang nächster Woche die erste Auffahrt von einigen Mitgliedern unternommen werden.

Ein Ereignis von nationaler Bedeutung war am frühen Abend des 30. Mai 1909 der kurze Aufenthalt des Luftschiffes LZ 5 über Bitterfeld. Von Friedrichshafen kommend war eine Fahrt nach Berlin geplant, dann wurde aber wegen Treibstoffmangels in Bitterfeld kehrt gemacht und die Rückfahrt aufgenommen. Ganz Deutschland war luftschiffversessen. In Berlin soll die Zahl derer, die LZ 5 erwarteten, in die Hunderttausende gegangen sein.

Die Euphorie war groß. Anfang des 20. Jahrhunderts lieferte sich das deutsche Kaiserreich mit dem britischen Empire ein Wettrüsten um den Aufbau der weltgrößten Seestreitmacht. In fast jeder Ausgabe des Bitterfelder Tageblattes wurde über Ballon- oder Luftschiffahrten geschrieben. Die Luftschifffahrt war eine nationale Angelegenheit, zumal Deutschland auf diesem Gebiet führend war. Die Deutschen befanden sich im Luftschifffieber, das ein gewisser Graf Zeppelin am Bodensee ausgelöst hatte. Der Bitterfelder Verein bestellte 1909 bei der Firma Clouth in Köln einen Ballon von 820 m³ Größe. Am 20. Juni war es soweit, der Ballon wurde mit einem Hoch auf Kaiser und Vaterland auf den Namen Bitterfeld getauft und unternahm mit Oberleutnant Stelling als Ballonführer und den Herren Luft, Pötzsch und Bauer die Tauffahrt in das 260 km entfernte Ostritz bei Groß-Schmölln. Luft und Bauer sollten die ersten Vereinsmitglieder sein, die nach Gründung des Vereins eine Ballonlizenz, oder wie es damals hieß – Ballonführer-Patent – erwarben. 21 Fahrten unternahm Bitterfeld noch bis Jahresende.

Taufvers des Bitterfeld

Eifrig zu fördern in unserem Kreise,
Der Luftfahrt Wissenschaft und Sport,
Sollst dienen Du in solcher Weise,
Zum Ruhme Deinem Heimatort.
Den Opfersinn, den wir gefunden,
Bei edlen Gönnern fern und nah,
Kannst allen Landen Du bekunden,
Wohin das Äug‘ Dich eilen sah.
Zur ersten Fahrt bereit stehst Du nun heute,
Bereit zu tragen in die weite Welt
Den Namen, den ich mit besonderer Freude
Dir hiermit gebe: Bitterfeld

Luftschiff auf Fernfahrt

Und noch einmal traf ein Luftschiff auf Fernfahrt in Bitterfeld ein. Am 28. August 1909 landete das Luftschiff Z III gegen 18.30 Uhr in Bitterfeld. 70.000 Menschen waren zugegen, soviel wie nie wieder zu irgend einem Ereignis in der Muldestadt. Am folgenden Morgen verließ das Luftschiff unter Führung des Grafen Zeppelin, der in Bitterfeld zustieg, den Ort und fuhr in Richtung Berlin.

Der Sächsisch-Thüringische Verein für Luftschifffahrt startete 1909 erstmals nachweislich vom Bitterfelder Startplatz. Der vereinseigene Ballon „Halle“ war dort bald Stammgast. 172 Fahrten wurden 1909 von Bitterfeld aus unternommen, davon insgesamt 36 mit diesem Ballon.

1909 war auch das Jahr in dem die ersten Ballonführerinnen von hier starteten: Margarete Gocht vom Sächsisch-Thüringischen Vfl und Emma la Quiante, die erste Frau mit einem deutschen Führerpatent. Welchen Vorbehalten männlicher Luftfahrerkollegen waren sie wohl ausgesetzt?

Eine Werbeveranstaltung war der Ballonaufstieg, den der Bitterfelder Verein Ende Juli 1909 in Eilenburg unternahm. Mitfahrende waren Hauptmann Härtel aus Leipzig als Führer sowie Bankvorsteher Lamprecht, Maurermeister Müller und Fabrikbesitzer Sperling aus Eilenburg. Dass der Aufstieg nicht ohne Nachwirkungen blieb, zeigt ein Blick in das Vereinsregister des Jahres 1911, das 9 Mitglieder aus Eilenburg aufweist.

Die weiteste Fahrt des Jahres führte am 1. September Herrn Sticker und drei Gäste über 1080 Kilometer nach Kreutzberg in Rußland. Viktor Beauclair fuhr am 8. April d. J. in seinem Ballon Cognac mit drei Gästen über 980 km in 21 Stunden nach Sarajevo. 152 Ballonaufstiege wurden für das Jahr 1909 gezählt, bei denen eine Gesamtfahrtstrecke von über 28.000 km zusammenkam.1)

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Autor Uwe Holz
chronik/1909.txt · Zuletzt geändert: 2022/04/23 18:13 von Volker Löschhorn