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chronik:1932

1932

1932 ging die Mitgliederzahl im Bitterfelder VfL bedingt durch die wirtschaftliche Rezession weiter zurück. Ende des Jahres waren noch 259 Mitglieder zu verzeichnen, davon allerdings 49 Ballonführer. Das entsprach einem Sechstel der Gesamtzahl der Ballonführer, die im Deutschen Luftfahrt-Verband organisiert waren. Am 29. Mai veranstaltete der Bitterfelder VfL anläßlich der Taufe des neuen Ballons Bitterfeld XI (945 m³) eine Vereinswettfahrt für 6 Ballone. Es war eine auf 6 Stunden begrenzte Weitfahrt. Sieger wurde der Bitterfelder Chemiker Dr. Fritz Giese, der nach 110 km bei Benneckenstein (Harz) landete. Am 10. September sollte die Wettfahrt um den DLV-Wanderpreis stattfinden. Der Start war für 23.00 Uhr festgesetzt. Trotz gegenteiliger Auskunft der Flugwetterwarte Schkeuditz und Beratung durch einen anwesenden Meteorologen, setzten gegen 20.44 Uhr unerwartet schwerer Hagelschlag und Sturm ein. Von den 7 gefüllten Ballonen wurden 4 vom Unwetter weggetrieben, konnten aber später geborgen werden. Die Wettfahrt wurde dann am 23. Oktober durchgeführt, wobei unter den 9 beteiligten Ballonen die ersten 3 Plätze durch den Bitterfelder VfL belegt werden konnten.

Höhepunkt für den Verein waren die beiden wissenschaftlichen Höhenfahrten am 18. Februar und 19. März, die im offenen Ballonkorb bis zu einer Höhe von 8800 bzw. 8500 Meter führten. Beide Fahrten wurden vom Bitterfelder Ballonführer Richard Schütze durchgeführt. Es wurde der Ballon Ernst Brandenburg (2200 m³) benutzt. Vom meteorologisch-magnetischen Observatorium Berlin fuhr der Meteorologe G. A. Suckstorff mit. Richard Schütze berichtete:

Der Zweck der Höhenfahrten war, Messungen der Höhenstrahlung zu machen. Die Höhenstrahlung ist wahrscheinlich eine elektro-magnetische Strahlung, die aus dem Weltraum zu uns kommt und die gleiche Wirkung hat wie die Strahlung des Radiums oder der Röntgenröhren. Für das Gelingen der ersten Hochfahrt war eine Schönwetterlage erforderlich. Wir sollten ja eine Fahrt erstmalig nach dem Kriege wieder durchführen und da Unterlagen über die Erfahrungen bei Höhenfahrten vor dem Kriege kaum oder nur spärlich vorlagen, so waren wir darauf angewiesen, die vorzufindenden Verhältnisse auf unsere Art zu meistern. Am 18. Februar klappte es mit dem Wetter, im übrigen war alles genügend vorbereitet und so konnten wir denn morgens 9 Uhr 28 Minuten mit unserem Ernst Brandenburg der lieben Mutter Erde ein herzliches Glück Ab zurufen und dem uns noch unbekannten Ziel zustreben. Körperlich waren wir genügend vorbereitet, wir hatten tagelang nicht geraucht, hatten keinen Alkohol genossen, tüchtig ausgeschlafen und so fühlten wir uns wie ein Fisch im Wasser. Den Ballon Sachsen, der vor uns aufgestiegen war, hatten wir in 2000 m überholt, über uns lachte die Sonne, also drauf los! Ballast über Ballast wurde über Bord geworfen, der Ballon stieg und stieg und bereits eine Stunde nach dem Start befanden wir uns in 3500 m Höhe über Wettin und 10 Minuten später sahen wir aus 4600 m Eisleben, wir fuhren demnach mit einer Geschwindigkeit von 60 km nach Westen. Mit der künstlichen Atmung aus den mitgenommenen Sauerstofflaschen hatten wir inzwischen begonnen, wir fühlten uns dabei wohl, hoffentlich blieb es auch in größerer Höhe so. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Durch eine Quetschung, die mein Atmungsgerät beim Hantieren mit Sandsäcken erlitten hatte, versagte dieses plötzlich, hätten wir nicht einen Reserveapparat gehabt, wäre es mit der Hochfahrt aus gewesen. So ging ich einfach an diesen und dachte: Freie Bahn dem Tüchtigen! 11 Uhr 30 Minuten hatten wir die 8000-Meter-Zone erreicht, mein Mitfahrer Suckstorff war so intensiv mit seinen Messinstrumenten beschäftigt, daß er nachher von dem Erlebten nicht viel erzählen konnte, ich aber widmete mich voll meiner Umgebung und die Bilder, die sich mir boten, sind ein Erlebnis, das mir ewig in Erinnerung bleiben wird. Herrlich die Sicht nach unten, ich hatte mir vorder Fahrt ein ewiges Dunstmeer unter mir liegend vorgestellt und wie angenehm war die Enttäuschung! Weit, weit unter mir, wie aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut, lagen Städte und Dörfer mit Straßen und Flüssen, alles so klein, daß ich die Stadt Kassel als solche nicht erkannte, sie vielmehr für ein größeres Dorf hielt. Und als ich dann die Karten, die im Korbe lagen, suchte, um Orientierung zu bekommen, sprang Suckstorff auf mich zu. Er hatte nicht die Absicht, mich in dieser Tätigkeit zu stören, aber da ich mich bücken mußte, hatte er mich als Versager betrachtet, ich war aber weit davon entfernt und Suckstorff atmete erleichtert auf. Wir glaubten zu diesem Zeitpunkt noch, über dem Thüringer Wald zu sein, dabei schwebten wir bereits in beschaulicher Ruhe über Westfalenland. Und als wir in 8800 m Höhe in strahlendem Sonnenschein nichts von der Kälte spüren, trotzdem die Instrumente minus 46,2 Grad Celsius anzeigten, erfaßte uns der Wunsch, ewig hierzu bleiben. Doch mit des Geschickes Mächten … unser Sauerstoff ging zur Neige, wir mußten herunter. Sehr glatt landeten wir bei Olpe, 60 Kilometer vor Köln. Hätten wir das vorher gewußt, wir wären bestimmt noch über den Rhein gefahren, wenn …

Die zweite Hochfahrt, die eine Kontrolle und Vervollständigung der Messungen der ersten Fahrt bezwecken sollte, wurde am 19. März durchgeführt. Der Wettergott zeigte sich diesmal nicht so gnädig. Als der Start erfolgte, hatte sich der Himmel mit einer Wolkendecke überzogen, zudem herrschte noch Schneetreiben. Die Windrichtung wies nach Südost. Als Orientierungspunkt diente uns über der Wolkendecke der sich aus derselben heraushebende Erzgebirgskamm mit Keil- und Fichtelberg. Die Maximalhöhe von 8500 m hatten wir überTeplitz-Schönau in der Tschechoslowakei erreicht. Eine Stunde später sichteten wir aus der gleichen Höhe Prag und als wir nach erfolgtem Abstieg in 4000 m Höhe die Mährische Schweiz sichteten, lag für uns der Entschluß fest, bis nach Wien zu gelangen. Auch diese Fahrt brachte manche Erlebnisse. So versuchte ich z. B. bei dem Abstieg in 5000 m Höhe ohne künstliche Atmung auszukommen, machte aber dadurch die Bekanntschaft mit der Höhenkrankheit. Dieselbe äußert sich darin, daß man für irgendwelche logischen Gedanken unbrauchbar wird. Meine Sprache hatte einen anderen Klang, den ich aber selbst merkte. Als ich meinen Begleiter beim Namen rufen wollte wußte ich beim besten Willen nicht mehr, wie er eigentlich heißt. Dann verwechselte ich die Begriffe. Ich wollte beispielsweise von meinem Begleiter einen Korb zum Verpacken der Instrumente verlangen, sagte aber zu ihm: Geben Sie mir die Ballonhülle!, worauf er mich etwas merkwürdig ansah. Ich wußte, daß ich einen falschen Begriff ausgesprochen hatte, konnte mich aber absolut nicht korrigieren. Erst als ich wieder in tiefere Lagen kam, die sauerstoffreicher waren, wurde ich wieder klar. Mein Mitfahrer Suckstorff hatte vorsichtshalber den Sauerstoffapparat bis in die 4000-Meter-Höhe hinunter behalten. Infolge ungenügender Karten, auf denen noch die alten Grenzen eingezeichnet waren, landeten wir nachmittags an der tschechisch-österreichischen Grenze bei dem Orte Feldsberg auf tschechischer Seite. Die Gendarmerie des benachbarten Postorna war sogleich zur Stelle. Der Ballon wurde wegen der bevorstehenden Dunkelheit nur notdürftig verpackt. Die Aufnahme durch die Behörden und durch die Bevölkerung war sehr zuvorkommend. Wir wurden in unserer Bewegungsfreiheit nicht beschränkt, durften jedoch den Ort zunächst nicht verlassen. Nach glatter Abwicklung der üblichen behördlichen Formalitäten konnten wir zwei Tage später, wir waren Sonnabends gelandet und mußten bis Montag warten, die Heimreise antreten. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Fahrten lassen sich zunächst dahin zusammenfassen, daß die Instrumente einwandfrei arbeiteten und daß die Messungen ähnliche Resultate ergaben, wie sie in den Jahren 1912 – 1914 von Kolhörster und Hess ermittelt wurden. Die Messungen sind alle planmäßig verlaufen.

Richard Schütze erhielt für seine ballonfahrerischen Leistungen 1932 von der Internationalen Flieger-Liga den Titel Deutscher Freiballonmeister zuerkannt. Im September des Jahres konnte sich Richard Schütze zusammen mit Erich Leimkugel und dem neuen netzlosen Ballon Deutschland (2200 m³) im Auftrag des DLV am internationalen Gordon-Bennett-Wettbewerb in Basel beteiligen, leider erreichten sie keinen der vorderen Plätze.1)

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Autor Dr. Jürgen Seifert
chronik/1932.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/24 11:26 von Volker Löschhorn

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